Wir brauchen Innovationen nicht nur bei Produkten. Wir brauchen innovative Lösungen auch bei Gewerbe- und Industriestandorten.
Sehr geehrte Frau Dr. Schelling, Herr Bopp, Herr Kiwitt,
Werte Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Damen und Herren
Keine Aufhebung des Grünzugs am Hungerberg
Die Regionalversammlung wird heute in großer Mehrheit die Fläche „Hungerberg“ in die Offenlegung als möglichen Vorhalte-Standort für Industrie und Gewerbe geben. Es geht um ein Gewerbegebiet von 21 ha, die Region sieht Erweiterungsmöglichkeiten auf 42 ha. Nun liegt der Standort aber im Regionalen Grünzug. Dessen planerische Funktion ist die Sicherung der Freiraumfunktionen Boden, Wasser, Klima, Arten- und Biotopschutz. Er soll der naturbezogenen Erholung dienen und besonders der land- und forstwirtschaftlichen Bodennutzung und Produktion. Heute öffnet die Regionalversammlung also selbst die Tür für die Aufhebung des Grünzugs im Regionalplan. Das lehnen wir ab.
Die Formulierung im Änderungsentwurf für den Regionalplan lautet: Mit der Bereitstellung von Flächen soll der Wirtschaftsstandort Region Stuttgart gestärkt werden und dies „unter Wahrung ökologischer, verkehrlicher und sozialer Belange“.
Genau in der Auslegung, was unter der Wahrung ökologischer, verkehrlicher und sozialer Belange zu verstehen ist, liegt unser Dissens.
Ein Kommentar von Herrn Durchdenwald hat diesen Dissens als Zielkonflikt zwischen „Wirtschaft versus Klima“ beschrieben. Wir Grünen möchten kein Entweder/Oder. Viel eher geht es uns um einen Ausgleich zwischen Wirtschaft und Klima. Im vorliegenden Fall stimmt die Balance für uns nicht. Dem Klima wird hier zu wenig Gewicht beigemessen.
Es zieht sich durch die Diskussionen des letzten Jahres: Wir leben in Zeiten des Umbruchs, gebeutelt von Klimawandel, Strukturwandel und Pandemie. Wie soll eine „Wirtschaft im Wandel“ aussehen? Wie gelingt es im Übergang von auslaufenden zu neuen Technologien die Anforderungen von Klimaschutz und Biodiversität gleichberechtigt und gleichzeitig wahrzunehmen. Es wird nicht funktionieren, erst Geld zu verdienen und dann Klimaschutz zu betreiben, Vorsorge ist günstiger als aufwändige Reparatur.
Uns Grünen ist wichtig: Wir brauchen innovative Technologien nicht nur im Blick auf Produkte, sondern angesichts endlicher Flächen auch innovative Lösungen für Gewerbe- und Industriestandorte. Gerade da spielt die Ressourceneffizienz eine wichtige Rolle. Die Gewerbeflächen-Tagung im Januar hat gelungene Beispiele sinnvoller Flächennutzung vorgestellt.
Wir sind der festen Überzeugung, dass die Frage von Wohlstand und Wachstum, oder – wir würden lieber sagen - „vom guten Leben für alle“, entkoppelt werden muss von neuen Flächen auf der „Grünen Wiese“.
Dass wir mit dieser Forderung Hürden überwinden müssen, wissen wir. Trotzdem sollten wir es mit vereinten Kräften versuchen.
Wir sehen dazu mindestens drei Ansatzpunkte:
• Im Regionalplan gibt es noch viele Hektar ausgewiesener und ungenutzter Gewerbeflächen, auch Interkommunale Gewerbeschwerpunkte. Die Kommunen wurden angefragt, es gab Absagen oder Aussagen, dass die Umsetzung zu schwierig sei, dass man sie deshalb nicht weiter betreibe. Wir kennen diese Antworten seit Jahren und haben den Eindruck, dass damit die Fälle „zu den Akten“ gelegt werden. Müssen wir nicht genau hier Bewegung in festgefahrene Situationen bringen - und Ist es nicht eine Chance für die WRS mit ihrer genauen Kenntnis der Marktsituation und der Bedarfe mit den Kommunen zu passgenauen Lösungen zu kommen? Vielleicht muss auch das regionale Förderprogramm zur Beseitigung von Hindernissen neu ausgerichtet werden.
• Natürlich wollen wir nicht, dass Produktionsstätten brachfallen. Da wurden unsere Argumente im letzten Wirtschaftsausschuss gründlich missverstanden. Dass es längst Brachflächen und leere Hallen und Bürogebäude gibt, wissen Sie so gut wie wir. Wenn solche Flächen dann für weitläufige Parkierungsanlagen genutzt werden, wie bei einem Stuttgarter Autobauer, kann das nicht zukunftsfähig sein. Die Entwicklung von Brachen kostet Geld. Auch deshalb haben wir ein Landesförderprogramm angeregt, wissend dass die Zeiten für neue Förderprogramme eher schlecht stehen. Da hoffen wir auch auf unseren Koalitionspartner. Auch unser Antrag an einem konkreten Fall proaktiv und modellhaft die Wiedernutzung einer Industriebrache aufzuzeigen, sollte endlich umgesetzt werden.
• Die Agenda 2030 fordert die Netto-Null bei der Landnutzung, die Flächenneutralität. Hier müssen wir in Deutschland, aber genauso in der Region Stuttgart den politischen und methodischen Durchbruch schaffen, wie eine Netto-Null-Bilanz bis 2030 gelingen kann. Die Inanspruchnahme von „Grüner Wiese“ sollte als „Verlust“ mit dem „Gewinn“ aus Entsiegelung und umweltgerechter Wiedernutzung von Brachflächen bilanziert werden. Dazu müssen die geeigneten Schritte aufgezeigt werden und wir brauchen den gesellschaftlichen Konsens, auch in diesem Gremium.
Zum Beschlussvorschlag und den Stellungnahmen:
Naturschutzverbände, wie LNV und BUND sprechen sich gegen die Fläche Hungerberg aus. Es wird auf Biotope, Artenschutz, Klimafolgen, Flächen- und Bodenschutz hingewiesen. Die Reaktionen in den Vorbesprechungen im Ausschuss gingen dahin, dass Naturschutzverbände immer so argumentieren und dies auch ihre Aufgabe sei, aber in der Abwägung sei man frei und könne diese Bedenken auch weniger gewichten. Da sehen wir die ökologischen Belange nicht gewahrt: Die Naturschutzverbände müssen Alarm schlagen, weil das Artensterben in galoppierendem Maße zunimmt und das nicht nur in dicht besiedelten Gebieten, sondern eben auch auf der Schwäbischen Alb. Beunruhigende Erkenntnisse dazu wurden am Wochenende auf der Jahrestagung des BUND vorgestellt. Beunruhigend auch deshalb, weil mit dem Sterben einer Art nicht nur diese fehlt, sondern es dann kaskadenartig mit anderen Arten weiter geht. Auch die notwendige verkehrliche Erschließung greift weiter in den Naturhaushalt ein, Autobahnnähe allein reicht nicht.
Es warnen aber nicht nur Naturschutzverbände. Auch der Bauernverband sieht durch die Aufhebung des Grünzugs Landwirte in ihrer Existenz bedroht. Bei der Wahrung sozialer Belange kann sich unser Blick nicht nur auf zahlenmäßig offene Arbeitsplätze auf neuen Industrieflächen richten, sondern er muss auch der Landwirtschaft mit ihrer regionalen Produktion, ihrer unverzichtbaren Landschaftspflege und letztlich auch ihren Arbeitsplätzen gelten.
Ein Wort zu den Arbeitsplätzen: Wir haben ein großes Interesse, dass alle Menschen ihren Arbeitsplatz behalten oder neu finden können. Es freut uns zu lesen, dass Bosch 500 Mitarbeiter*innen aus dem Verbrenner-Bereich umschult für den Elektroantrieb. Neue Fläche schafft aber nicht per se mehr Arbeitsplätze. In der Studie zum Flächenverbrauch im letzten Wirtschaftsausschuss war Digitalisierung interessanterweise ein Grund sowohl für weniger Flächenbedarf, für gleichbleibenden Bedarf als auch für Zuwachs. Bei der von uns favorisierten Zukunftstechnologie Digitalisierung müssen wir also auch ihre Kehrseite, die Rationalisierung von Arbeitsplätzen, sehen.
Was wir nicht verstehen ist, dass die Tatsache, dass Kirchheim „um die Ecke“ und zeitgleich ein Gewerbegebiet von 20 ha ausweist, keine Rolle in der Diskussion um den Hungerberg spielt.
Wir werden zum Hungerberg nein sagen. Dennoch wollen wir eine starke, zukunftsfähige und in vielerlei Hinsicht nachhaltige Region. In diesem Ziel sind wir uns mit der Arbeit der Wirtschaftsregion und mit Ihnen Herr Dr. Rogg einig. Sie haben in einem Ihrer Interviews in der Stuttgarter Zeitung vor etwa einem Jahr gesagt, dass die urschwäbische Tugend des Maßhaltens auch ein Exportschlager werden könnte.
Das hat uns gefallen. Wir würden gern gemeinsam schauen, wie wir das umsetzen können. Vielen Dank!