Verantwortung, Augenmaß und Zukunftsorientierung mit Haltung!

Regionalversammlung 22.10.2024
Prof. Dr. André Reichel
Deutschland befindet sich im Herbst 2025 in unklaren Zeiten. Die Großkrisen der letzten Jahre mögen zwar vorüber sein – die Corona-Pandemie, der Energiepreisschock –, aber die Wirtschaft kommt dennoch nicht vom Fleck. Wir alle spüren: es hat sich strukturell etwas verändert.
Am stärksten trifft diese Veränderung das deutsche Wirtschaftsmodell: fokussiert auf den Export industrieller Güter vor allem in die USA und nach China funktioniert es heute nicht mehr. Mit den USA befindet sich Europa zwar nicht einem Handelskrieg – der EU-Kommission sei Dank! – aber in Zukunft wird der US-Markt für Industriegüter und Autos nicht mehr die Rolle spielen wie in der Vergangenheit. Dasselbe gilt für China, mit dem wir Europäer uns in einem strategischen Wettbewerb befinden. Der Export wird in viel stärkerem Maße ein europäischer und auf den EU-Binnenmarkt konzentriert sein – und von dort aus sich neue Märkte im Globalen Süden suchen, z.B. in Brasilien und Indien.
Gleichzeitig müssen wir auch erkennen, dass die auf den heimischen Markt orientierte Wirtschaft mit einer schwachen Binnennachfrage zu kämpfen hat. Auch wenn die Inflation wieder weniger geworden ist, so bleibt das Preisniveau doch deutlich über der Vor-Corona und Vor-Energiepreisschock-Zeit. Ebenso hat die Lohnentwicklung zwar den Arbeitnehmenden mehr Einkommen beschert, real ist davon aber am Ende nicht viel übriggeblieben. Hier sind auch alle Signale für Einschnitte bei sozialen Transferleistungen – Stichwort Bürgergeld – Gift für den Konsum und damit Gift für die heimische, vor allem die lokale Wirtschaft.
Und schließlich spüren wir immer stärker die Demografie in Deutschland: Fachkräfte auf allen Ebenen fehlen und nicht überall kann durch Automatisierung und Produktivitätssteigerung Abhilfe geschaffen werden. Salopp gesagt: das Baugerüst wird auch in Zukunft nicht von ChatGPT aufgestellt.
Bevor wir jetzt aber alle wieder den Weltuntergang zelebrieren ist es mir wichtig etwas zu betonen: wir gewinnen die großen Schlachten unserer Zeit im selben Geist wie wir sie verlieren. Dieser Ausspruch stammt, leicht abgewandelt, von Antoine de Saint-Exupéry und meint, dass unsere Haltung darüber entscheidet, wie wir handeln. Wenn wir verzagt und voller Untergangsrhetorik sind, dann werden wir auch untergehen. Wenn wir mutig sind, Probleme klar benennen, uns aber vor allem mit Lösungen beschäftigen, dann werden wir jede Herausforderung meistern. Das ist mein Wunsch für diesen Haushalt.
Denn Politik ist nicht machtlos. Natürlich werden wir, weder national und schon gar nicht regional, an der Großwetterlage dieser neuen Globalisierung viel ändern können. Aber ein paar Handlungsfelder sind doch klar:
- Die Energiepreise müssen runter, und zwar für alle. Das erreicht man aber nicht, indem man in 20 GW Gaskraftwerke investiert, sondern indem man das Netz modernisiert und die Erneuerbaren weiter ausbaut – auch in der Region! Die „Freiheitsenergien“, wie Christian Lindner die Erneuerbaren einmal nannte, haben die niedrigsten Strom-Gestehungskosten. Damit dieser Kostenvorteil aber bei den Endkunden ankommt, muss in das Netz investiert werden, in Speichertechnologien, in intelligente Stromzähler. Das schont nicht nur den Geldbeutel oder schafft Arbeitsplätze und technologische Innovationen; es beugt auch geopolitischer Erpressung vor, wenn wir weder von russischem noch von US-amerikanischem Gas abhängig sind.
- Die doppelte Transformation von Dekarbonisierung und Digitalisierung muss in allen Wirtschaftsbereichen weiter vorangetrieben werden. Manche sprechen hier ja gerne von De-Industrialisierung, was empirisch natürlich Unsinn ist. Deutschland ist weiterhin überdurchschnittlich stark im produzierenden Sektor – und gerade die Transformation in neue Industrien der Nachhaltigkeit, des Klimaschutzes, der Künstlichen Intelligenz, des Quantencomputings, der Gesundheitstechnologien sichern den Industriestandort Deutschland.
Eine kleine Nebenbemerkung: gerade Baden-Württemberg und die Region Stuttgart sind dabei ein Deep-Tech-Labor, weltweit führend bei technologischen Anwendungen hinter den bunten Apps auf unseren Smartphones.
Eine zweite Nebenbemerkung: auf der IAA in diesem Jahr haben wir durchaus sehr gute Nachrichten der Autohersteller vernehmen können – die Antriebswende zur E-Mobilität ist nicht mehr aufzuhalten, die deutschen Hersteller haben den Turnaround technologisch und von den Produktpaletten her geschafft. Ja, die europäischen Hersteller insgesamt sind weltweit die Nummer 2 – hinter China – beim Absatz von E-Mobilen. Das kann uns Hoffnung machen!
Aber es gilt auch: gerade bei den Zulieferern im Automobilbereich wird die Transformation viel abverlangen. Nehmen wir Bosch, ein Unternehmen welches wie kein zweites für den ehrbaren Kaufmann in der sozialen Marktwirtschaft steht. Die wirtschaftlichen Turbulenzen von Bosch rühren daher, weil das Unternehmen mehrere große Wetten eingegangen ist – autonomes Fahren, Wasserstoff, Wärmepumpen – deren Pay-Off ein Stück weit in der Zukunft liegt. Diese Entscheidungen waren aber alle richtig und sie werden auch gute Gewinne abwerfen – aber eben erst in den kommenden Jahren.
- Der Demografie lässt sich nur auf eine Art begegnen: Migration aktiv und offensiv zu erweitern. Ja, Migration muss zunehmen, von ihr hängt unser Wohlstand ab und ohne sie wird z.B. der Gesundheits- und Pflegebereich zusammenbrechen. Für Migration muss man die rechtlichen Rahmenbedingungen setzen, das ist Aufgabe der Bundesregierung. Aber für gelingende Migration braucht es die regionale und lokale Ebene. Migration findet vor Ort statt, Integration ebenso. Als Region Stuttgart sind wir eine Region der Zugewanderten, schon immer gewesen.
Was haben wir Grünen nun regional vor, um all diesen Herausforderungen zu begegnen. Zunächst zum Thema Wirtschaft, das sicherlich bei uns allen heute im Vordergrund stehen wird.
Wirtschaft
Rund 21 Prozent der Beschäftigten in der Region Stuttgart haben eine ausländische Staatsangehörigkeit. Sie leisten einen enormen Beitrag zu Wertschöpfung, Vielfalt und Innovationskraft. In einer Zeit, in der Migration wieder politisch instrumentalisiert wird, wollen wir die Fakten sichtbar machen mit unseren Anträgen zur Bedeutung von Migration in der Wirtschaft und der Unterstützung von Fachkräften aus aller Welt mit einem regionalen Relocation-Service. Migration ist für uns keine Belastung oder störend im „Stadtbild“, sondern eine Notwendigkeit und ein Standortfaktor.
Zukunftsfähiger Wohlstand braucht auch neue industrielle Schwerpunkte. Deshalb setzen wir mit Anträgen zum Förderprogramm Zukunftstechnologien sowie der Innovationsplattform „Arena2036“ auf eine gezielte Förderung der Gesundheitstechnologien als Zukunftsbranche.
Zukunftssicherung gelingt dabei nur gemeinsam. Darum haben wir mit der CDU/ödp den interfraktionellen Antrag zu Internationalisierung und Weiterbildung im Rahmen der Hochschulregion eingereicht.
Der nächste große Bereich ist unsere Kernaufgabe im Verband: die Regionalplanung.
Planung
Unsere Anträge zur Innenentwicklung in kleinen Kommunen und einem Wettbewerb für effiziente Flächennutzung verfolgen ein gemeinsames Ziel: Wir wollen den Flächenverbrauch senken und Kommunen in ihrer Innenentwicklung stärken.
Mit dem Antrag Bürokratieabbau im Regionalplan gehen wir ein strukturelles Problem an: Erneuerbare Energien scheitern nicht an fehlenden Flächen, sondern an alten Planungslogiken. Freiflächen-PV ist rückbaubar, versiegelt kaum Fläche und sollte deshalb nicht mehr in dieselbe Kategorie fallen wie dauerhafte Bebauung.
Und dann noch etwas sehr Grünes: Streuobstwiesen. Sie prägen das landschaftliche Gesicht unserer Heimat. Zum 50-jährigen Streuobstwiesen-Jubiläum beantragen wir ein Sonderbudget für Bildungs- und Erlebnisprojekte.
Zu guter Letzt widmen wir uns auch dem Verkehr, dem größten Haushaltsposten seit je her.
Verkehr
Mit unserem Antrag Klimaneutrale S-Bahn wollen wir sicherstellen, dass bei der kommenden Ausschreibung und Vergabe des neuen S-Bahn-Vertrags verbindlich dargestellt wird, wie die S-Bahn Stuttgart bis spätestens 2045 klimaneutral betrieben werden kann.
Verkehrspolitik endet aber nicht an der S-Bahnsteigkante. Mit dem Antrag zur Entwicklung der regionalen X-/Expressbusse prüfen wir, wie diese Linien als flexible Ergänzung zur S-Bahn weiterentwickelt werden können.
Gleichzeitig wollen wir prüfen lassen, inwieweit die Panoramabahn auch nach März 2027 als Ausweichstrecke genutzt werden kann, wenn die Stammstrecke wegen der Anbindung Mittnachtstraße für insgesamt 13 Wochen voll gesperrt wird. Wir wissen, wie hoch die Hürden dazu sind, aber angesichts der äußerst angespannten Baustellenlage in 2027 dürfen wir nichts unversucht lassen, um den ÖPNV-Gau für unsere Fahrgäste zu verhindern.
Und schließlich haben wir mit CDU/ödp, FDP und Freien Wählern den interfraktionellen Antrag zur Weiterentwicklung der S-Bahn-Fahrzeuggeneration eingebracht. Ziel ist, frühzeitig festzulegen, wie die S-Bahn der Zukunft im Fahrgastbereich aussehen soll.
Schluss
Ganz am Ende möchte ich noch der Verwaltung und insbesondere unserem Regionaldirektor danken. Für die Kommunen unserer Region sind es finanziell schwierige Zeiten. Darauf haben Sie, Herr Dr. Lahl, mit Verantwortung und Augenmaß reagiert, ohne dabei notwendige Weichenstellungen zu unterlassen – ich nenne nur das Förderprogramm Zukunftstechnologien.
Mit dieser Mischung aus Verantwortung, Augenmaß und Zukunftsorientierung wollen wir Grünen uns an den kollegialen Beratungen in den nächsten Wochen beteiligen. Auf dass wir die Schlachten unserer Zeit mit dem richtigen Geist gewinnen!
Vielen Dank!
– Es gilt das gesprochene Wort –