Rede von André Reichel zum Haushaltsentwurf 2011 Regionalversammlung 08.12.2010
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,meine Damen und Herren,
der vorliegende Haushalt wird überschattet von Stuttgart 21. Besonders schwer lastet dieser Schatten auf der Kernaufgabe des Verbandes, dem regionalen Schienenverkehr, genauer: unserer S-Bahn.
Wie noch nie zuvor stellt sich Stuttgart 21 als ein Angriff auf den ÖPNV dar – sowohl in der Realität der Berufspendler jeden Morgen, als auch in den Zahlen des regionalen Haushalts. Es vergeht kaum ein Tag ohne massiv verspätete S-Bahnen im Berufsverkehr und ohne Ausfälle von ganzen Zügen. Die S-Bahn in der Region war einst das zuverlässigste Verkehrsmittel, auch und gerade in der Konkurrenz zum morgendlichen Stau auf den Straßen. Seit Beginn der Bauarbeiten für Stuttgart 21 haben wir eine S-Bahn auf dem Stand eines Notfallfahrplans – oder noch schlimmer: auf dem Stand von Stuttgart 21, wenn es denn realisiert werden sollte!
Meine Damen und Herren, was diese Regionalversammlung in ihrer großen Mehrheit will, und da schließe ich uns Grüne ganz klar ein, ist eine starke Region, die sich den großen Herausforderungen unserer Zeit stellen kann:
- dem menschengemachten Klimawandel, der von uns neue Produktionsweisen, neue Produkte, neue Verhaltens- und Mobilitätsweisen, kurz: einen ganz anderen Lebensstil fordert;
- dem demografischen Wandel, mit einer älter und weniger werdenden Bevölkerung mit ganz anderen Bedürfnissen, gerade im Bereich urbaner Mobilität;
- der weiter voranschreitenden Globalisierung, die unsere Region als Identifikationskern und Konstante im Wandel notwendig macht, man könnte auch ganz altmodisch sagen: als Heimat für ihre Menschen.
Region darf sich dabei nicht im Klein-Klein der kommunalen Eigeninteressen verlieren; sie darf sich erst recht nicht von der DB in allen Belangen des regionalen Verkehrs austricksen und vertrösten lassen. Warum gehen wir als Region nicht viel offensiver die Bahn an und verlangen Schadenersatz von ihr dafür, dass sie unsere S-Bahn kaputt macht?
Sind wir denn nicht selbstbewusst gegenüber der Bahn, wie auch gegenüber einer Landesregierung, die den Verband in allen Belangen seit Jahren schon im Regen stehen lässt? Wer bringt denn den Nahverkehr voran, wenn nicht die Region, die gemeinsam mit den Regionskommunen ein jedes S-Bahnprojekt vorfinanziert, und das nicht zu knapp! Und jetzt trauen wir uns als Verband nicht einmal, uns schützend vor die S-Bahn zu stellen, aus falsch verstandener Verbundenheit wegen Stuttgart 21!
Lassen Sie mich ein Schlaglicht auf Stuttgart 21 werfen, denn das bewegt uns alle. Wenn die Schlichtungsgespräche unter Heiner Geißler eins gezeigt haben, dann die völlige Planlosigkeit nach 16 Jahren Planung und fast 500 Millionen Euro Planungskosten. Eine Bürgerinitiative (!) musste den Befürwortern – auch denen hier im Saal – aufzeigen, dass der Tiefbahnhof und das gesamte dahinter stehende Konzept schwere Mängel aufweist. Stuttgart 21 kann nicht mehr Züge abfertigen als der heutige Kopfbahnhof – es sei denn man missachtet alle Regeln von Kundenfreundlichkeit, Pünktlichkeit und Umsteigemöglichkeiten, die im Bahnverkehr sonst in Deutschland gelten.
Das musste die Bahn auch eingestehen, alle großspurigen Versprechungen von vor der Schlichtung – (1) größere Leistungsfähigkeit, (2) Kapazitätserweiterungen in der Zukunft, (3) Bedeutung für die europäische Phantommagistrale – all das ist jetzt da, wo Stuttgart 21 auch hingehört: auf dem Abstellgleis einer Dinosaurierpolitik, die ihr Heil im Schneller-Höher-Weiter sucht!
Kommen wir zurück zu unserer S-Bahn und dem ÖPNV in der Region. Schon lange bedroht S21 den regionalen Nahverkehr. Wir haben das bei der Ausschreibung der S-Bahn im Wettbewerbsverfahren erlebt, als alle Mitbewerber der Bahn zurückzogen unter Verweis auf die Unwägbarkeiten von S21. Keiner wollte sich hier eine blutige Nase holen und sich von den Bauabläufen der DB abhängig machen. Auch im Haushalt 2011 findet sich ein Angriff auf den ÖPNV, nämlich durch die Senkung der Umlage, die CDU, Freie Wähler und FDP aus Mitteln der ÖPNV-Rücklage finanzieren wollen.
Mit der Umlagesenkung sollen die Kommunen entlastet werden, nicht nur wegen der momentanen wirtschaftlichen Lage, sondern weil der regionale Finanzierungsanteil für Stuttgart 21 in Höhe von insgesamt 100 Millionen Euro zum zweiten Mal fällig wird; weil wir hier die 179 Kommunen der Region von Adelberg bis Zell zur Kasse bitten: meine Geburtsstadt Esslingen mit fast 360.000 Euro im Jahr, Ludwigsburg mit über 330.000 Euro im Jahr und kleine Kommunen wie Winterbach oder Waldenbuch mit 33.000 Euro im Jahr.
Jeder von uns, der auch kommunalpolitisch Verantwortung trägt, weiß was diese Beträge für die Kommunen bedeuten. Und jetzt will die Mehrheit hier die Kommunen entlasten zu Lasten des ÖPNV!
Die Rücklage ist nämlich unser Schatzkästchen zur Vorfinanzierung von S-Bahn-Ausbauvorhaben und die leeren wir jetzt mutwillig, um S21 zu finanzieren – so schaut die Verkehrspolitik von Schwarz-Gelb aus, im Land und in der Region!
Wir Grünen sehen auch die Lage der Kommunen und wollen sie entlasten. Aber eben nicht auf dem Rücken unserer S-Bahn, sondern auf dem Rücken von S21. Dafür spart die Region seit Jahren eine eigene Rücklage an und jetzt, wo wir diese gewaltigen Probleme bei der S-Bahn haben, greifen wir in die falsche Schatulle!
Aber das hat bei Stuttgart 21 ja auch Methode. Stuttgart 21 ist von Beginn an ein Projekt des schnellen Fernverkehrs gewesen, zum fragwürdigen Nutzen von vielleicht 10 Prozent der Bahnkunden in der Region. Der Nahverkehr, der uns hier in dieser Versammlung am nächsten sein sollte, spielte nie eine große Rolle. Nie war das so sichtbar wie heute und mit diesem hier vorliegenden Haushalt, meine Damen und Herren!
Wir Grünen in der Region sind die Partei des Nahverkehrs. Wir wollen den Nahverkehr ausbauen, ihn attraktiver machen, mit attraktiven Tarifen und Tarifstrukturen, und endlich ein Umsteigen auf Busse und Bahnen einleiten. Hier tritt der VVS seit Jahren auf der Stelle! Wir erhöhen im Nahverkehr jedes Jahr die Tarife um ja kein Prozent Kostendeckung zu verlieren – bei Stuttgart 21 stören uns die Milliarden kein Deut! Wir kommen bei der S60 seit Jahren nur auf der Kriechspur voran, auch und gerade weil das Projektmanagement der DB mehr als bescheiden ist – und bei Stuttgart 21 ist uns sogar der Stresstest egal!
Dieses Projekt wird am Rückstand des ÖPNV in der Region nichts ändern. Angesichts der Störanfälligkeit des geplanten Tiefbahnhofs befürchten wir eine dauerhafte Beschädigung des Nahverkehrs, die alle Bemühungen regionaler Daseinsvorsorge und regionalen Klimaschutzes zunichtemacht. Wie soll denn die S-Bahn noch ausgebaut werden, wenn zum Beispiel der Filderraum durch eine ICE-Trasse zerschnitten wird? Mit noch mehr Mischbetrieben von schnellen und langsamen Verkehren? Wann kommt dann die Tangentialverbindung über die schon vorhandene Schusterbahn zwischen Bad Canstatt und Kornwestheim? Nach der Realisierung von S21, also vielleicht in 20 Jahren? Und was ist mit Göppingen? Die große Mehrheit dieser Regionalversammlung will die Anbindung des Landkreises Göppingen an das S-Bahn-Netz. Dies kann schon morgen geschehen, ganz ohne zusätzliche Infrastrukturmaßnahmen, ganz ohne Stuttgart 21!
Wir Grünen sind der Meinung, dass uns Göppingen doch näher sein muss als Ulm. Die Wahrheit aber ist, dass S21 auf Jahre hinaus jede Weiterentwicklung der S-Bahn blockiert. Heute müssen wir diese Verbindungen planen und heute müssen wir für deren Finanzierung im regionalen Haushalt vorsorgen. Das sind die wichtigen und richtigen Schwerpunkte regionaler Verkehrspolitik, und nicht ein Hochglanz-Hochgeschwindigkeits-Phantom namens Stuttgart 21!
Ich will an dieser Stelle aber eine Lanze für die Verbandsverwaltung brechen, denn sie hat in ihrer Beschlussempfehlung zum Umlagesenkungsantrag der CDU-FW-FDP klipp und klar gesagt, dass dies die ÖPNV-Rücklage gefährlich absenkt. Wenn man unserer Verwaltung eins nicht vorwerfen kann, dann sicherlich, sie hätte nicht ernsthaft genug nach Einsparungen im Haushalt zur Entlastung der Kommunen gesucht. Gleichzeitig lässt die CDU, immerhin die stärkste Fraktion in diesem Haus, die Verbandsführung im Regen stehen und verlangt bei der Wirtschaftsförderung weitere Einschnitte. Und das obwohl die WRS derzeit gerade eine
- neue Wirtschaftsförderstrategie Strategie umsetzen soll,
- die Kooperation mit den Hochschulen ausbauen soll und
- im Bereich E-Mobilität - nicht ganz zu Unrecht - Zurückhaltung attestiert.
Und was bringen diese Einschnitte? Gerade mal 5 Cent Einsparung pro Einwohner in der Region. So sehen Sparfüchse aus und nicht genug, man beschließt auch noch zusätzliche Aufgaben und Finanzierungen oben drauf, ich frage Sie: wie geht das zusammen?
Genauso schwach sieht nun der Haushalt bei der so genannten weichen Infrastruktur aus. Eine starke Region – die wir alle wollen! – braucht auch eine starke kulturelle Ausstrahlung. Es war Bernd Steinacher, der in einer Metrex-Veranstaltung in der Kronenstraße einmal kritisch anmerkte, die großen Gateway-Infrastrukturen seien eigentlich austauschbar; es komme viel mehr auf die kulturelle Infrastruktur an, das stärke die Attraktivität, das biete den Menschen Bindung und Heimat. Wir Grünen stellen uns deswegen eine andere Gewichtung von Sport- und Kulturregion vor, als Sie das jetzt vorhaben. Muss denn ich hier als Grüner den Konservativen im Saal sagen, welche Bedeutung Heimat hat?
Meine Damen und Herren, wir Grünen sehen in der Gesamtschau keinen überzeugenden Grund, diesem Haushalt zuzustimmen. Es ist ein Haushalt im Schatten von S21; ein Haushalt, der wichtige Chancen auf die Herausforderungen von Klimawandel, Demografie und Globalisierung nicht wahrnimmt, der die Zukunft unserer Kernaufgabe, die S-Bahn, gefährdet und das Wohl und Wehe der Region an Stuttgart 21 bindet.
Wir sind dagegen, weil wir für etwas anderes sind:
Wir sind für eine starke Region,
für einen leistungsfähigen und attraktiven ÖPNV,
für ein Umsteigen auf Busse und Bahnen,
für unsere S-Bahn und deren Ausbau – und damit gegen diesen Haushalt.