Reden
Rede zum Haushaltsentwurf 2020 Regionalversammlung 23.10.2019
Rede von Prof. Dr. André Reichel Regionalversammlung 23. Oktober 2019
Sehr geehrter Herr Vorsitzender, sehr geehrte Frau Dr. Schelling, meine Damen und Herren:
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrte Frau Regionaldirektorin,
sehr geehrte Mitglieder der Regionalversammlung:
Die ersten Haushaltsberatungen einer neuen Regionalversammlung haben eine besondere Bedeutung. Sie dienen nicht nur dazu, den Fraktionen eine parteipolitische Profilierung zu ermöglichen, sondern sollen vor allem dem Verband eine klare Richtung für die nächsten fünf Jahre aufzeigen. Es geht also um die Benennung der vordringlichsten regionalen Herausforderungen und den ersten Vorschlägen, wie diesen am besten zu begegnen ist.
Aus Sicht meiner Fraktion ist die größte Herausforderung der menschengemachte Klimawandel und seine ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Jeden Freitag wird uns die Dringlichkeit der globalen Erderwärmung durch die Fridays For Future-Demonstrationen weltweit ins Bewusstsein gerückt. Wir haben es hier nicht mit einer Luxusfrage zu tun, der man sich mit ein wenig grüngefärbter Wohlfühlpolitik widmen kann. Es geht beim Klimawandel ums Ganze und die Zeit ist nicht unser Freund, sie zerrinnt uns unter den Fingern. Wer daran zweifelt, wer den Klimawandel abtut oder leugnet, stellt sich außerhalb einer rationalen, evidenzbasierten Debatte. Um es klar zu sagen: Klimawandelleugner leben in einer Fantasiewelt, die nichts mehr mit den Realitäten eines sich überhitzenden Planeten zu tun hat.
2015 hat sich die Weltgemeinschaft mit dem Pariser Klimaabkommen verpflichtet, die globale Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Mittel zu begrenzen. Deutlich unter 2 Grad. Das ist ein völkerrechtlich verbindliches Ziel, das alles politische Handeln verpflichtet – auch auf der regionalen Ebene. Wenn wir uns aber anschauen, welche Wirkungen die Selbstverpflichtungen der UN-Mitgliedsstaaten bei der Reduktion von Treibhausgasen haben, stellen wir fest: damit werden wir das Pariser Ziel nicht erreichen. Wir steuern im besten Fall auf eine 2,5 Grad-Welt zu, im schlimmsten Fall auf eine 3,5 bis 4 Grad-Welt. Die Folgen dieser Welt wären ein Anstieg des Meeresspiegels um mehr als 5 Meter; in Europa die Versteppung der iberischen Halbinsel, Südfrankreichs, Italiens und des Balkans; das vollständige Abschmelzen aller Alpengletscher und ganzjährig schneefreie Alpengipfel; die Ausbreitung von Tropenkrankheiten auch in unseren Breitengraden; mehr als eine Verdopplung der Anzahl der Hitzetage in Süddeutschland und nicht zuletzt ein enormer Anstieg an Klimawandelflüchtlingen aus dem globalen Süden.
Die andere große Herausforderung ist technisch-ökonomischer Natur: die Digitalisierung. Digitale Technologien verändern nicht einfach nur das Wirtschaften, sie stellen viele Verhältnisse auf den Kopf. Die gerade in unserer Region alteingesessenen Leitindustrien des 19. und 20. Jahrhunderts gehören nicht mehr zur Spitze des wirtschaftlichen Fortschritts. Dieser wird auf der einen Seite dominiert vom Silicon Valley in den USA und seiner sehr kalifornischen Geisteshaltung des „erst machen, dann die gesellschaftlichen Folgen berücksichtigen“; auf der anderen Seite durch chinesische IT-, Software- und Internetunternehmen, die weniger die Emanzipation des Menschen durch Technik im Blick haben, als die Möglichkeit einer perfekten Kontrolle sozialen Verhaltens durch Digitalisierung. Es geht bei der Digitalisierung nicht nur um die Frage nach neuen, tragfähigen und hoffentlich auch nachhaltigen Geschäftsmodellen; es geht aus meiner Sicht auch und gerade um die Frage, welche Werte sollen in dieser schönen neuen Digitalwelt gelten.
Was also tun? Für uns Grüne galt und gilt immer der doppelte Ansatz: global denken und global handeln, aber auch lokale Antworten auf globale Fragen finden. In diesem Geist haben wir auch unsere Anträge formuliert. Vorneweg der Leitantrag, den wir interfraktionell mit CDU/ÖDP und den Freien Wählern stellen, der beide Themen – Klimawandel und Digitalisierung – aufgreift. Hier möchte ich mich bei beiden Fraktionen – lieber Herr Dr. Pfeiffer, Herr Koch, lieber Herr Hesky – noch einmal recht herzlich für die Mitarbeit bedanken. Es ist meine Überzeugung, dass wir dem Klimawandel aktiv begegnen können, wenn die Potenziale der Digitalisierung genutzt werden, unter anderem bei der Entwicklung einer nachhaltigen Mobilität. Darunter fallen neue Antriebssysteme und der entsprechende Wandel in den Zulieferketten, aber auch neue Mobilitätsdienstleistungen und Mobility-On-Demand. Ebenso haben wir in der Region junge Unternehmerinnen und Unternehmer, mutige Start-Ups und KMU, die gemeinsam mit den regionalen Wissenschaftsinstitutionen und unserer aktiven Zivilgesellschaft einen Innovationszusammenhang schaffen können, der nur schwer kopierbar ist. So kann zukunftsfähige Wettbewerbsfähigkeit aussehen. Unsere WRS soll deswegen den gerade stattfindenden Strategieprozess für den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Region Stuttgart unter der Überschrift „Transformation in Richtung Nachhaltigkeit“ ausrichten und weiterentwickeln. Der Verband selbst richtet eine interfraktionelle Arbeitsgruppe „Wirtschaft im Wandel“ ein, die diesen Transformationsprozess demokratisch begleitet. Das ist aus meiner Sicht ein starkes Signal, dass wir hier in der Region Stuttgart aus einer Position der Stärke heraus den wirtschaftlichen Wandel gestalten und unsere Region nachhaltig entwickeln.
Beim Thema Nachhaltigkeit wollen wir auch unsere Regionalplanung noch einmal kritisch prüfen. In den Abwägungsprozessen von regionalplanerischen Vorhaben und Maßnahmen werden im Planungsausschuss immer wieder Zielkonflikte, etwa zwischen Bodenschutz, Landwirtschaft und wirtschaftlichen Entwicklungsinteressen diskutiert. Seit der Aufstellung des Regionalplans sind sowohl auf globaler als auch auf nationaler Ebene neue Ziele verabschiedet worden, in erster Linie das bereits erwähnte völkerrechtlich verbindliche Ziel einer globalen Erderwärmung deutlich unter 2 Grad, aber auch die Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, die 17 Sustainable Development Goals. Wir halten es für unerlässlich den Regionalplan vor dem Hintergrund dieser Ziele kritisch zu betrachten und über planerische Konsequenzen für die Zukunft zu diskutieren.
Den größten Beitrag, den der Verband vielleicht beim Klimaschutz leisten kann, ist im Verkehr, seiner Kernaufgabe. Hier geben wir Grünen drei Schwerpunkte vor: (1) Verkehrsinfrastruktur und -angebot; (2) VVS-Tarife; (3) Neue Mobilitätsdienstleistungen.
Zu (1) Verkehrsinfrastruktur: das Ziel der Bundesregierung, die Fahrgastzahlen im Fernverkehr auf der Schiene bis 2030 zu verdoppeln muss auch auf der regionalen Ebene aufgegriffen werden. Dazu wollen wir eine Entscheidungsgrundlage haben, welche infrastrukturellen Voraussetzungen für eine Verdopplung der Personenkilometer auf der S-Bahn notwendig sind. Vom Verkehrsministerium gibt es einen Vorschlag mit der Ergänzungsstation am neuen Stuttgarter Tiefbahnhof, der in diesem Gremium kontrovers gesehen wird. Ich sage Ihnen: wir können nicht nur „nein“ sagen. Beim Brexit sieht man ja seit Jahren, wohin es führt, wenn man sich nur darauf einigen kann, was man NICHT will.
Wir müssen als Verband auch unsere Alternativen benennen und damit bei unseren Partnern im Nahverkehr – vor allem beim Land, aber auch beim Bund – auf Finanzierung und zeitnahe Realisierung drängen. Zu diesen Alternativen gehören die Verlängerung bestehender S-Bahn-Linien über ihre Endhaltepunkte hinaus, zusätzliche Tangentialverbindungen, eine Verdichtung auf den 10-Minuten-Takt sowie die Zusatzoptionen von Stuttgart 21, insbesondere die T-Spange und das Nordkreuz.
Beim Verkehrsangebot müssen wir des Weiteren Nägel mit Köpfen machen. Dazu wollen wir zum einen die alten Überlegungen zur Verlängerung der S-Bahnlinie S5 nach Vaihingen/Enz aufgreifen und zeitnah umsetzen. Was die Ausweitung des Nachtverkehrs auf der S-Bahn angeht, wollen wir einen Stufenplan haben für die Umsetzung des durchgehenden Nachtbetriebs auf allen S-Bahnlinien und Wochentagen bis zum Ende dieser Wahlperiode. Und schließlich müssen wir endlich weiterkommen bei den Expressbussen. In der Region Stuttgart fahren dabei drei Systeme, die nicht miteinander kommunizieren: unser RELEX-Bus, die Expressbusse der Landeshauptstadt und die Expressbusse des Landes. Hier braucht es einen Runden Tisch der Aufgabenträger und Betreiber um nach Möglichkeiten zu suchen, aus dem Vielerlei ein einheitliches, aufeinander abgestimmtes und optimiertes Expressbusnetz zu machen.
Zu (2) VVS-Tarife: Die VVS-Tarifreform vom April 2019 stellt einen großen Schritt bei der Vereinfachung und Vergünstigung der Fahrpreise im Verbundgebiet dar. Gerade außerhalb der Kernstadt ist sie dabei auch ein Schritt zu mehr Tarifgerechtigkeit für die Fahrgäste in der Fläche der Region, die eine geringere Bedienungsqualität haben und bislang überproportional stark bei den Fahrpreisen belastet wurden. Es gibt aber Fahrgastgruppen, die bislang nicht von der Reform profitieren. In erster Linie sind dies Schüler, Auszubildende und Studierende, also die zukünftigen Fahrgäste und Jahreskartenbesitzer. Ebenso wird es immer wichtiger, soziale schwächer Gruppen im VVS-Tarif mitzunehmen, seien das nun Senioren oder Menschen in staatlichen Hilfesystemen. Wir brauchen hier eine Entscheidungsgrundlage für die Schaffung eines für alle Fahrgäste attraktiven und transparenten Tarifgefüges – unabhängig von ihrer sozialen Lage und aktuellen Lebenssituation.
Gleichzeitig muss das Umsteigen vom motorisierten Individualverkehr in Busse und Bahnen weitergehen. Dazu braucht es jetzt ein klares Signal an die Fahrgäste, dass die Tarife im nächsten Jahr stabil bleiben. Der Verband kann dies natürlich nicht alleine erreichen, er braucht dazu die Mithilfe der anderen Partner im VVS. Vor allem das Land spielt eine entscheidende Rolle. Gleichzeitig wollen wir als Verband ein Signal setzen, dass die Pönalemittel der S-Bahn, die für Schlechtleistungen (Verspätungen, Zugausfälle) gezahlt werden mussten, hier den Fahrgästen wieder zurückgegeben werden, indem wir damit Tariferhöhungen einmalig abfangen. Auf längere Frist muss aber klar sein, dass ein guter ÖPNV selbstverständlich auch durch höhere Fahrpreise finanziert werden muss. Etwaige Tarifsteigerungen nach 2020 sollten aber ebenso durch öffentliche Mittel abgefedert werden.
Zu (3) neue Mobilitätsdienstleistungen: Die Verkehrswende hin zu einer nachhaltigen Mobilität kann nur gelingen, wenn verschiedene Verkehrsträger sinnvoll und in der Fläche der Region miteinander vernetzt werden. Dabei kommt neuen Mobilitätsdienstleistungen eine hervorgehobene Rolle zu. Mit seinem Förderprogramm „Modellregion für nachhaltige Mobilität“ hat der VRS bereits einen wichtigen ersten Beitrag geleistet, so z.B. bei der Intermodalität durch Vernetzung und digitale Lösungen sowie der Integration in den Mobilitätsverbund durch PolyGo und das RegioRad. In der Landeshauptstadt und den großen Mittelzentren der Region gibt es bereits kommerziell interessierte Anbieter solcher Mobilitätsdienstleistungen. In den Unterzentren und in der ganzen Breite der Region, vor allem an ihrer Peripherie, werden diese Angebote aber ohne öffentliche Förderung und ohne Kooperation öffentlicher Akteure (von der Region über die Kreise bis in die Kommunen) nur schwer etabliert werden können. Wir wollen aber nachhaltige Mobilität und neue Mobilitätsformen auch und gerade in der Fläche. Deswegen muss der VRS hier im Rahmen seiner Verantwortung für die Verknüpfung von Verkehren tätig werden und aufzeigen, wie bisherige Erfolge und Erfahrungen mit Carsharing, Bikesharing, und On-Demand-Busverkehren auf die ganze Region übertragen werden können. Daran anknüpfend wollen wir auch das RegioRad in die Fläche tragen, nämlich mit einem neuen Förderprogramm um den Ausbau in den kleinen und mittleren Kommunen voran zu bringen.
Zu guter Letzt gibt es einen Antrag, wo es vordergründig nicht „ums Ganze“ geht, wie ich eingangs erwähnt habe. Es geht um Kultur, um die Kulturregion und die Unterstützung und Vernetzung von Kulturakteuren in der Region. Ein wichtiges Anliegen der KulturRegion Stuttgart ist es, das kulturelle Erscheinungsbild der Region zu prägen und damit die Identität der Region als Ganzes zu stärken. Sie leistet das bisher hervorragend mit ihren jährlichen Projekten. Und unterschätzen wir nicht: die Identitätsstiftung durch Kultur, die Integration verschiedenster Menschen, Lebensläufe und Biografien durch Kultur, lässt erst erstarken was wir Heimat nennen. Auch das ist ein Stück Nachhaltigkeit. Um die Kulturregion schlagkräftiger zu machen haben sich die Vorstandsmitglieder der KulturRegion – Grüne, CDU/ÖDP, Freie Wähler und SPD – geeinigt, eine komplementäre Finanzierung einer Stelle „Regionalmanager/in Kultur“ mit insgesamt 120.000 EUR in den nächsten vier Jahren zu leisten. Für die Mitarbeit am Antrag und dessen Unterstützung möchte ich mich bei den Kollegen im Vorstand der Kulturregion ganz herzlich bedanken.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Wir Grünen wollen mit den hier gestellten Anträgen dem Verband und dieser Region eine klare Richtung für die nächsten Jahre geben. Dies tun wir im Bewusstsein als stärkste politische Kraft der letzten Regionalwahl, aber noch viel mehr weil uns die Region und ihr Verband in den letzten 25 Jahren ans Herz gewachsen sind. Ingrid Grischtschenko hat es so treffend in ihrer Bewerbungsrede zum stellvertretenden Verbandsvorsitz formuliert: die Region gehört niemandem in dieser Versammlung, wir haben sie nur geliehen bekommen, sie zu hegen und zu pflegen und für die zukünftigen Herausforderungen fit zu machen. In diesem Geist, der uns sicherlich alle eint, werden wir Grünen die Haushaltsberatungen konstruktiv, kollegial und offen führen.
Vielen Dank!