Reden
Regionalversammlung 18.09.2019
Vorstellungsrede von Prof. Dr. Ande Reichel zum Verbandspräsidenten Regionalversammlung 18. September 2019
Sehr geehrter Herr Noë,
sehr geehrte Frau Regionaldirektorin,
sehr geehrte Mitglieder der 6. Regionalversammlung:
Der US-amerikanische Dichter Walt Whitmann hat einmal gesagt „der Veränderung die Tür schließen hieße, das Leben selber aussperren“. Die Regionalwahl hat am 26. Mai diesen Jahres eine große Veränderung gebracht, die Grünen wurde stärkste Kraft, und aus diesem Grund stehe ich heute vor Ihnen und bewerbe mich um das Amt des Vorsitzenden des Verband Region Stuttgart.
Viele von Ihnen kennen mich seit 15 Jahren als Regionalrat im Bereich Verkehr, wo wir gerade in den letzten Jahren sehr große und weitreichende Entscheidungen getroffen haben (siehe ETCS und Tarifreform) – mit großer Einstimmigkeit, wie ich anmerken möchte. Für mich war und ist das auch ein Markenzeichen der Regionalversammlung, dass wir bei allem inhaltlichen Streit um die besseren Lösungen immer wieder zusammenfinden zum Wohle der 2,7 Mio. Menschen in unserer Region.
In diesem kritisch-kollegialen Geist will ich, sollten Sie mir heute Ihr Vertrauen schenken, den Verband als Vorsitzender kraftvoll führen. In den vielen Gesprächen mit den Fraktionen vor der Sommerpause habe ich immer wieder betont, dass dieses Amt kein parteipolitisches ist, aber sehr wohl ein politisches. Ich werde deswegen auch kein grüner Verbandsvorsitzender sein, sondern ein Regionalpräsident für die gesamte Regionalversammlung, der im Institutionengefüge des Landes auf die Selbständigkeit der Region achten wird.
Gleichzeitig will ich aber auch, bei aller Kollegialität, dieser Regionalversammlung politischen Streit in zivilen und produktiven Bahnen ermöglichen helfen. Das gehört nach meinem Verständnis zur Demokratie. Dabei bin ich natürlich auf die Mitarbeit aller Fraktionen angewiesen. Und am Ende ist für mich selbstverständlich klar: Mehrheitsbeschlüsse binden nicht nur die Verbandsverwaltung in ihrem Handeln, sondern auch den Verbandsvorsitzenden. Wichtig ist mir, dass wir es in der Tat schaffen, regionale Entscheidungen entlang der Sache zu diskutieren und uns nicht von den Wahlkalendern der Landes- oder Bundesebene abhängig machen lassen.
Inhaltlich wirkt der Verbandsvorsitzende durch die Gestaltung der Tagesordnung der Sitzungen, aber mehr noch durch seine Schwerpunktsetzung in Reden und Wirken. Welche Schwerpunkte sehe ich also für die kommenden 5 Jahre dieser 6. Regionalversammlung? Es sind vor allem drei Herausforderungen, denen ich mich widmen möchte:
1. Der menschengemachte Klimawandel: wie gehen wir mit dessen Ursachen und Folgen vor Ort, in der Region Stuttgart um? Welchen Beitrag kann eine Regionalplanung, eine Verkehrsplanung, eine Wirtschaftsförderung leisten, um zum einen den Klimawandel zu begrenzen, zum anderen um die Folgen in verträgliche Bahnen zu lenken?
2. Eine sozial und ökologisch verträgliche Flächenentwicklung: Unsere Region ist beliebt, sie wächst entgegen allen ursprünglichen Prognosen. Darauf hat der Verband schon reagiert. Schlagworte sind Innen- vor Außenentwicklung, Nachverdichtung, aber auch behutsamer Umgang mit Neuflächen. Für eine klimawandelgerechte Stadt- und Regionalplanung, die gleichzeitig soziale Inklusion und Wohnen für alle ermöglicht, setze ich auch große Hoffnungen in den IBA-Prozess. Wo wenn nicht in Stuttgart könnten denn besser neue Wohn- und Siedlungsformen erfunden und demonstriert werden. Gleichzeitig muss uns allen klar sein: ein Nullwachstum beim Flächenverbrauch wird es auch in den nächsten 5 Jahren nicht geben können.
3. Die regionale Wirtschaft im Wandel: Neben den ökologischen Herausforderungen der Dekarbonisierung der gesamten Lieferkette treibt in erster Linie die Digitalisierung aller Wirtschafts- und Lebensbereiche einen Umbruch voran, auf den sich die Region einstellen muss. Das fängt beim Breitbandausbau an, hört aber noch lange nicht dabei auf. Welche Industrien sind denn in 10, in 20, in 30 Jahren noch ökologisch vertretbar, wirtschaftlich zukunftsfähig und schaffen für eine breite Mehrheit gut bezahlte Arbeitsplätze? Auch hier ist die Region gut aufgestellt, aber ich denke wir müssen alle unsere Anstrengungen erhöhen, damit die Region Stuttgart auch weiterhin ein guter Arbeits-, Wohn- und Lebensort ist. Kurz: damit sie für alle Menschen, die hier leben und arbeiten wollen auch eine gute Heimat sein kann.
Es gibt vielleicht noch einen vierten Punkt, der mir sehr am Herzen liegt. Wir erleben zur Zeit einen Rollback was Globalisierung und gesellschaftliche Offenheit für Neues betrifft, vor allem Offenheit für andere Menschen. Neue Nationalismen scheinen wieder hoffähig geworden zu sein und prägen viele Debatten. Ich selbst bin davon überzeugt: die Stärke der Region – im Wirtschaftlichen wie im Mitmenschlichen – basiert auf Offenheit, auf Neugier, auf einer der Welt zugewandten Willkommenskultur. Wo immer der Verband und seine Regionalversammlung dafür die Stimme erheben können, werde ich es als Ihr Verbandsvorsitzender entschieden und mit Klarheit tun.
Was will ich konkret angehen in den ersten Wochen und Monaten als Verbandsvorsitzender? Ich denke, der Verband braucht wieder ein großes Projekt, in dem sich alle Fraktionen der Regionalversammlung wiederfinden, aber auch die regionale Wirtschaft und Zivilgesellschaft.
Dieses große Projekt ist für mich die Transformation wirtschaftlicher Strukturen in unserer Region in Richtung Nachhaltigkeit. Die Zielvision ist dabei die einer Nachhaltigkeitsregion Stuttgart, bei der vor allem die Wirtschaftsförderung eine herausgehobene Stellung einnimmt. Hier will ich eine gemeinsame Task Force aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Verband und WRS schaffen, die zusammen mit anderen Akteuren in der Region Ziele und Maßnahmen auf den folgenden drei Feldern erarbeitet:
1. Ökonomisch nachhaltige Region: Digitalisierung nicht passiv hinnehmen, sondern aktiv als Lösungsansatz in die ökologischen Herausforderungen integrieren, Weiterbildung für digitale Berufe für alle ermöglichen, neuen Unternehmen und jungen Unternehmerinnen und Unternehmern ein gutes wirtschaftlich-institutionelles Ökosystem bieten.
2. Ökologisch nachhaltige Region: den Klimawandel vor Ort bekämpfen mit neuen Wirtschaftsstrukturen, Geschäftsmodellen, Mobilitäts- und Wohnformen. Zur Mobilität sage ich gleich noch was.
3. Sozial nachhaltige Region: die starken zivilgesellschaftlichen Strukturen in der Region aktiv in diesen Transformationsprozess einbinden, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten nutzen und ihnen einen klaren Platz „am Tisch“ der Nachhaltigkeitsregion einräumen.
Dieser Prozess braucht dabei aus meiner Sicht ein Pendant in der Regionalversammlung. Für große und bedeutsame Themen können wir interfraktionelle Arbeitsgruppen einrichten wie beispielsweise beim Verkehr. Als Vorsitzender werde ich gemeinsam mit Ihnen eine interfraktionelle Arbeitsgruppe „Wirtschaft im Wandel“ einrichten. Diese soll sich ein- bis zweimal im Jahr konzeptionell mit Transformationsfragen beschäftigen und in den von mir skizzierten WRS-Prozess eng eingebunden sein.
Das Thema Mobilität hatte ich bereits angesprochen und darüber möchte ich noch kurz reden. Teil eines Transformationsprozesses in Richtung einer Nachhaltigkeitsregion Stuttgart ist die Neuerfindung der Mobilität, also der Urkompetenz der Wirtschaft vor Ort. Hier sehe ich auch eine spannende und fruchtbare Verbindung von aktivem Klimaschutz und der Nutzung der Chancen durch Digitalisierung. Neue Mobilitätssysteme werden gerade in unserer Region entwickelt und umgesetzt: Carsharing, Ridesharing, Bikesharing, Rufbusse, Mobility On Demand – die Mobilitätslandschaft verändert sich und hier muss der Verband mutig voranschreiten. Alle Studien hierzu zeigen: die Gestaltung eines nachhaltigen Mobilitätssystems gelingt dann am besten, wenn alle Verkehrsträger miteinander vernetzt sind. Es geht also nicht um die Konkurrenz zwischen Auto oder Bus und Bahn, sondern um die technische und institutionelle Gestaltung der Übergänge vom einen zum anderen.
Mein Augenmerk liegt hierbei nicht so sehr auf großen Städten im Kern der Region, sondern auf den Kommunen in der Fläche. Wenn die Verkehrswende in Richtung nachhaltige Mobilität gelingen soll, müssen wir einen klaren Rahmen für die eher ländlich geprägten Räume der Region schaffen, um dort die letzten Kilometer von der S-Bahnstation nach Hause sicherzustellen. Hier spielen Rufbussysteme eine wichtige Rolle, aber durch geeignete Rahmensetzung werden auch weitere Sharing-Lösungen mit Autos und Fahrrädern möglich. Eine regionale Mobilitätsagentur – bei der Verband, Landeshauptstadt und Landkreise zusammenkommen – kann dabei mutig vorangehen und gemeinsam mit dem Land eine Modellregion Stuttgart für vernetzte Mobilität schaffen.
Bei all dem ist es mir aber auch wichtig, dass wir als Regionalversammlung ein klares Signal im Verkehr setzen, das von allen verstanden wird: nach der Tarifreform ist vor der Tarifreform. Damit meine ich nicht, dass wir noch einmal im Schnitt 25 Prozent die Tarife im VVS senken, wie es dieses Frühjahr erfolgt ist. Aber ich denke sehr wohl, dass wir uns überlegen müssen, wie wir mit den Fahrgästen umgehen, die bislang nicht von der Tarifreform profitieren. Schüler, Auszubildende, Studierende, Rentner, aber auch Empfänger von Transferzahlungen warten noch auf günstigere und attraktive Tarife. Um diese Gruppen muss sich die Regionalversammlung in den kommenden Jahren verstärkt kümmern.
Und schließlich werden wir auch vor Infrastrukturfragen nicht verschont bleiben. Wir planen gerade die S-Bahn nach Neuhausen, verdichten den S-Bahn-Takt auf 15 Minuten über den ganzen Tag und führen bis 2025 die neue Signalleittechnik ETCS ein. Das wird aber nach meiner Überzeugung nicht reichen, wir müssen auch die Perspektiven schaffen, dass wir den S-Bahn-Takt weiter verdichten und neue Linien einführen können. Hier bin ich ganz bei der CDU und ihren Überlegungen für einen 10-Minuten-Takt auf der S-Bahn, auch wenn uns das sicherlich nicht vor 2030 gelingen wird. Aber: wir müssen bereits in den nächsten 5 Jahren die Weichen stellen und uns darüber klar werden, welche Infrastrukturen wir dafür benötigen. Ich erwähne nur die T-Spange und das Nordkreuz bei Stuttgart 21, aber auch die Panoramastrecke und die Schusterbahn, die Bestandsinfrastrukturen sind.
Ich komme zum Schluss. Als Verbandsvorsitzender bin ich nur so stark, wie der Verband selbst. Damit meine ich vor allem, wie wir von den anderen Akteuren wahrgenommen werden: dem Land, den Landkreisen, der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft. Das Ende der Kompetenzstreitigkeiten zwischen Verband und Landkreisen durch den ÖPNV-Pakt vor über 5 Jahren, war dafür aus meiner Sicht entscheidend. Wichtiger noch für diese Außenwahrnehmung ist aber eine gute Zusammenarbeit in der Spitze des Verbands, zwischen Vorsitzendem und Regionaldirektorin. Frau Dr. Schelling, von mir haben Sie dazu ganz klare Ansagen bekommen: ich werde als Vorsitzender meine Rolle ausfüllen und Ihnen den Raum lassen, als Regionaldirektorin Ihre Rolle auszufüllen. Wir haben eine hervorragende Verwaltung und die will ich nicht durch unnötige Rangeleien an der Spitze lähmen. Dafür sind die Herausforderungen für die Region zu groß und es entspricht auch nicht meinem Wesen.
Sehr geehrte Mitglieder der Regionalversammlung, vor Ihnen stehen 15 Jahre Ehrenamt als Regionalrat, 17 Jahre Nachhaltigkeitsforschung als Wirtschaftswissenschaftler und 45 Jahre als Schwabe aus der Region Stuttgart.
Ich will Ihr Verbandsvorsitzender werden und bitte um Ihr Vertrauen.
Vielen Dank!