Reden
Stellungnahme zum Haushaltsentwurf 2024 Prof. Dr. André Reichel
- Es gilt das gesprochene Wort -
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrter Herr Regionaldirektor,
sehr geehrte Mitglieder der Regionalversammlung,
es gibt einen alten sowjetischen Witz, in dem ein Journalist den Generalsekretär der Kommunistischen Partei um eine Bewertung der Wirtschaftslage des Landes bittet. „Gut“ lautet die kurze Antwort. Der Journalist bittet den Generalsekretär, das näher zu erläutern, damit er seine Story fertig schreiben kann. „In diesem Fall“, antwortet der Generalsekretär, „‚Nicht gut‘“.
So lässt sich auch der Zustand der Welt heute beschreiben. Standen wir vor einem Jahr vor dem ersten Kriegswinter, so stehen wir heute vor dem zweiten – und zum Ukraine-Krieg ist jetzt der Krieg um Gaza noch dazu gekommen. Wir stehen fassungslos vor den furchtbaren Bildern des brutalen Angriffs der Hamas auf israelische Zivilisten. Ebenso fassungslos müssen wir erkennen, dass auch bei uns zu Hause jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger wieder Angst haben vor gewaltsamen Übergriffen. Geschichte, die ja mal geendet haben soll in den 1990ern, scheint ein böses Spiel mit uns zu spielen und sich endlos zu wiederholen.
Angesichts der Weltlage erscheinen sicherlich manche Debatten, die wir in der Regionalversammlung und ihren Ausschüssen führen, trivial und belanglos. Was können wir denn in der Region Stuttgart schon machen, um irgend etwas in der Welt zum Besseren zu verändern? Auf den ersten Blick vielleicht nicht viel, auf den zweiten Blick aber doch nicht ganz so wenig.
Stichwort Ukraine-Krieg: wo wir unsere Energie und Rohstoffe für die Wirtschaften herbekommen, welche Art von Energie und Rohstoffen wir verbrauchen, welche Menge – da haben wir durchaus etwas in der Hand. Durch die ambitionierte Umsetzung der Energie- und Klimawende in der Wirtschaft mindern wir nicht nur die ökonomischen Folgen des Krieges, wir entziehen einem Diktator auch die wirtschaftliche Grundlage. Kommt zur Energie- und Klimawende noch die Rohstoffwende hinzu, mit einem Fokus auf Kreislaufwirtschaft in allen Branchen, v.a. und gerade auch der Baubranche, dann wird eine runde Sache daraus und unser Handlungsspielraum deutlich größer.
Stichwort Gaza-Krieg: wie wir uns gegenüber Hass und Gewalt gegen religiös und weltanschaulich Andersdenkende positionieren, wie wir der Kultur der Zwietracht und Abschottung eine Kultur der Eintracht und, ja, eine Willkommenskultur entgegenhalten, das hat durchaus eine Wirkung. Ganz pragmatisch, weil wir Menschen von überall her brauchen, die in der Region Stuttgart Heimat und Arbeit finden. Und damit auch moralisch, weil die Region Stuttgart eine gute Heimat für alle Menschen – gleich welcher Religion, Hautfarbe oder Herkunft – sein will und sein kann.
Ein gutes Beispiel hierfür ist das Sonderprojekt „Jüdische Geschichte und Kultur in der Region Stuttgart“ der KulturRegion, in Kooperation mit der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs. Mein Dank nochmal an die FDP-Fraktion, auf deren Initiative hin der Verband dieses Projekt fördert. Für die Zukunft wird es noch wichtiger sein, im Rahmen dieses und weiterer Projekte, auf die langen Linien im deutschen Antisemitismus hinzuweisen, der ja nicht erst in der NS-Zeit begann, sondern schon vorher tief im Bürgertum verankert war – und bis heute nachwirkt, ja sogar in Gestalt des neuen Rechtsextremismus wieder in deutschen Parlamenten sitzt.
Energiewende, Klimawende, Rohstoffwende, Verkehrswende: Diese für die Zukunftsfähigkeit der Region Stuttgart so notwendigen Vorhaben müssen wir mit dem regionalen Haushalt mit Leben füllen und konkretisieren. Das will meine Fraktion mit den hier eingebrachten Anträgen erreichen. Dabei ist uns als Grüne auch klar: die Gesellschaft ist größer und bunter als wir es sind und deswegen haben wir auch viele interfraktionelle Anträge gestellt, gemeinsam mit Ihnen, unseren Kolleginnen und Kollegen in der Regionalversammlung.
Interfraktionelle Anträge
Bei der Rohstoffwende wollen wir, gemeinsam mit SPD und Linke/Pirat, Flächen sichern für regionales Bau- und Rohstoffrecycling. Dazu soll die Verwaltung beauftragt werden, geeignete Flächen in geplanten oder bestehenden Gewerbeflächen oder anderweitig vorgeprägten Gebieten zu identifizieren, die sich für die Ansiedlung von Recyclingunternehmen eignen. Diese Flächen sollen anhand von Eignungskriterien wie z.B. einer günstigen Lage zum Schienengüterverkehr, ausgesucht und interkommunal für die Nutzung zum Bau- und Rohstoffrecycling ausgewiesen werden.
Bei der Verkehrswende haben wir gemeinsam mit SPD, FDP und Linke/Pirat einen Antrag zu Panoramabahn und Nordkreuz eingebracht. Hier wollen wir für eine zügige Sanierung und Ertüchtigung mit unseren Partnerinnen von Bahn, Land und Stadt sorgen sowie eine Verständigung zu einem belastbaren Betriebskonzept herbeiführen. Wichtig ist uns allen dabei die Berücksichtigung der Panoramabahn bei Planung und Bau der P-Option in Richtung Norden sowie der Sicherstellung zur Anbindung an ein noch zu erstellendes Nordkreuz in Richtung Bad Cannstatt. Das sind langfristige Maßnahmen, die wir aber jetzt zügig vorbereiten müssen, damit wir ab 2030 auch Schritt für Schritt die Panoramabahn in unser S-Bahn-System integrieren können.
Verkehrswende heißt aber auch kurzfristig etwas ändern, und das wollen Grünen gemeinsam mit der CDU/ÖDP-Fraktion beim S-Bahn-Nachtverkehr. In Abstimmung mit der S-Bahn Stuttgart soll ein Konzept für nächstes Jahr entwickelt werden, dass an den Stuttgarter Spieltagen der Fußball-EM der Herren durchgehend Nachtverkehr wie am Wochenende gefahren werden kann. Ebenso wollen wir während des nächsten Cannstatter Volksfests die Betriebszeiten unter der Woche um einen Umlauf verlängern. Trotz angespannter Lage bei der S-Bahn muss gerade bei Großereignissen, wo viele Menschen unterwegs sind, ein überzeugendes ÖPNV-Angebot vorliegen.
Und schließlich geht es einer breiten Mehrheit von Grünen, Freien Wählern, SPD, FDP und Linke/Pirat um eine Würdigung der Arbeit von KulturRegion und SportRegion, die zu den Aushängeschildern und Markenzeichen der Region Stuttgart gehören. Die öffentliche Wahrnehmung ist in den letzten Jahren aufgrund der Ausweitung und Intensivierung der Arbeit, und der überaus professionellen Erfüllung der Aufgaben, immens gestiegen. Damit verbunden ist allerdings auch eine Erhöhung der Aufwendungen. Um weiterhin die Qualität der Arbeit von KulturRegion und SportRegion erhalten zu können, sehen wir interfraktionell hier die Notwendigkeit für eine Erhöhung der Zuwendung um jeweils 30.000 EUR.
Den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen, mit denen wir diese Anträge gemeinsam auf den Weg gebracht haben, gilt mein herzlicher Dank, so möchte ich auch gerne bei den nächsten Haushaltsberatungen in der neuen Wahlperiode gemeinsam weitermachen!
Arbeitskräfte und Qualifizierung
Über diese interfraktionellen Anträge hinaus, haben wir auch eigene Schwerpunkte gesetzt. Zunächst beim Thema Arbeitskräfte und Qualifizierung. Der Mangel an Arbeitskräften ist ein erheblicher Hemmschuh für viele Branchen und Sektoren, u.a. auch für die Umsetzung der Energiewende, die Pflege oder auch Gastronomie. Neben anderen Gruppen sind Geflüchtete fachlich teils gut ausgebildete und einsatzbereite Arbeitskräfte. Die Bundesregierung bereitet gerade die Möglichkeiten für eine bessere, frühzeitige und rechtlich gesicherte Beschäftigung von Geflüchteten vor. Vor diesem Hintergrund sollen die Möglichkeiten für die Arbeitskräfte-mobilisierung insgesamt, aber besonders aus dem Kreis von Geflüchteten neu bewertet und mögliche Maßnahmen für ihre zügige Mobilisierung durch die WRS erarbeitet werden.
Ebenso wollen wir den Q-Guide verstetigen, da dessen Finanzierung im nächsten Jahr ausläuft. Die Q-Guide-Initiative ist jedoch über 2024 hinaus erforderlich und sollte aus Grünen-Sicht eine langfristige Perspektive bekommen. Hierfür wollen wir von der WRS ein Konzept erstellt bekommen, in dem auch mögliche Finanzierungsquellen identifiziert werden.
Baustoffkreisläufe
Bei der Rohstoffwende im Baubereich wollen wir Grünen die regionale Förderung beim nachhaltigen Bauen erweitern. Diskussionen und Verfahren zur Sicherung von Rohstoffen aus den zurückliegenden Jahren haben erneut gezeigt, dass die Förderung von Recyclingrohstoffen und die Vermeidung von geologischen Primärrohstoffen zur Erreichung der Klima- und Nachhaltigkeitsziele elementar sind, um die Erschließung von neuen Steinbruch-Standorten und die damit einhergehenden Belastungen für Anwohner und Landschaft zu minimieren.
Der VRS soll deswegen regionale Programme zur (Ko-)Finanzierung von kommunalen Vorhaben zum Einsatz von mineralischen Recyclingbaustoffen durch Förderkriterien für mehr Nachhaltigkeit ergänzen.
Ebenso braucht es bei der Rohstoffwende im Baubereich eine Anlaufstelle für den Baustoffkreislauf. Seitens der Kommunen und der KMU gibt es einen hohen Beratungsbedarf hinsichtlich des Baustoff-Kreislaufs und Baustoff-Recyclings, der bisher von der WRS weder zeitlich noch fachlich ausreichend abgedeckt werden kann. Deswegen soll der WRS im Haushalt die finanzielle Möglichkeit zur Schaffung einer solchen Anlaufstelle zur Verfügung gestellt werden.
Erneuerbare Energien
Genauso wichtig wie Rohstoffe ist Energie. Um hier die Energiewende in der Region weiter voranzubringen, wollen wir Grünen gerade bei der Freiflächenphotovoltaik einen Schwerpunkt setzen. Stand hier in der Vergangenheit häufig eine Konkurrenz zur landwirtschaftlichen Nutzung im Vordergrund, geraten nun zusehends die Chancen einer Doppelnutzung ins Blickfeld unter dem Schlagwort Agri-PV. Daher soll der Verband eine Informationsveranstaltung für Unternehmen, Landwirte und Kommunen anbieten, bei der unterschiedliche Modelle einer Doppelnutzung geeigneter Flächen für Energieerzeugung und landwirtschaftliche Bewirtschaftung vorgestellt werden.
Zur Energie gehören natürlich auch die S-Bahn und, wie in jeder Haushaltsberatung, der Ökostrom! Nachdem bei diesem Thema einer Mehrheit in diesem Gremium kurz vor der Ziellinie der Mut verlassen hat, will meine Fraktion von der Verwaltung dargestellt bekommen, was uns eigentlich entgangen ist aufgrund dieser Fehlentscheidung. Seit der Ablehnung der Umstellung der S-Bahn auf Ökostrom mit den Stimmen von CDU/ÖDP, Freie Wähler, AfD und FDP, kam es zu starken Bewegungen auf dem Strommarkt. Um hier die finanziellen Folgen besser verstehen zu können, und vielleicht auch die Mehrheitsmeinung im Gremium in Zukunft wieder zu kippen, wollen wir Auskunft, wie sich diese Entwicklungen auf die S-Bahn auswirken und wie das Ziel, die S-Bahn auf Ökostrom umzustellen, vom Verband Region Stuttgart und der Deutschen Bahn weiterverfolgt wird.
S-Bahn zuverlässig und zukunftsfähig machen
Damit bin ich beim letzten großen Haushaltspunkt angekommen, dem Verkehr und der Verkehrswende. Hier gilt es kurzfristige und langfristige Perspektiven gleichermaßen einzunehmen. Als Aufgabenträger der S-Bahn muss der Verband zeigen, dass er energisch und entschlossen die Zuverlässigkeit des Systems wieder herstellen und sicherstellen will und kann. Leider zeichnet sich in den vergangenen Jahren ein Negativtrend ab. „Zu behaupten, die S-Bahn Stuttgart agiere derzeit glücklos, wäre eine schamlose Untertreibung“, schreibt die Stuttgarter Zeitung am 3. Februar 2023. Insbesondere während der zahlreichen Bauphasen leidet die Qualität des S-Bahn-Betriebs und der Ersatzmaßnahmen. Deswegen wollen wir Grünen eine Offensive des Verbands beim Qualitätsmanagement der S-Bahn, gemeinsam mit unseren Partnerinnen von der DB, und das beinhaltet auch die Schaffung einer entsprechenden Personalstelle.
Bei allem Ärger über die S-Bahn und der Notwendigkeit eines kurzfristigen Krisen- und Qualitätsmanagements, müssen wir in der Regionalversammlung aber auch die langfristigen Perspektiven im Auge behalten: im Jahr 2032 wird ein neuer S-Bahn-Vertrag in Kraft treten mit einer neuen Betreiberin der S-Bahn. Ob das wieder die DB Regio sein wird oder vielleicht eine i.d.Z. immer stärker in deutschen Netzen auftretende Österreichische Bundesbahn wird die Ausschreibung zeigen. Genau diese muss bis 2028 erfolgt sein, in dem Jahr wird die S-Bahn-Leistung dann vergeben. Wir haben also noch knapp vier Jahre, in denen wir uns über sehr viele Dinge Klarheit verschaffen müssen. Zwei entscheidende Punkte sind aus Grünen-Sicht dabei die Frage möglicher Kooperationen bei der Ausschreibung, wie es z.B. zwischen Köln und München geschehen ist. Die S-Bahn Rhein-Main/Frankfurt muss im selben Zeitraum wie Stuttgart ausgeschrieben und vergeben werden. Hier ist schnell zu prüfen, ob eine gemeinsame Vergabe sinnvoll ist und welche Schritte wir dazu planen müssen.
Ebenso ist uns allen klar, dass wir in den 2030ern mehr Schienenverkehre haben werden, mit gänzlich anderen Fahrzeugtypen der S-Bahn. Das S-Bahnwerk Plochingen platzt aber jetzt schon aus allen Nähten. Deswegen ist es höchste Eisenbahn einen Suchlauf in der Region zu starten, wo wir zusätzliche Flächen für die Weiterentwicklung der S-Bahn haben und wie wir diese sicherstellen können. Dabei müssen wir auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Wird die DB Regio weiter die S-Bahn fahren, reicht eine zweite Werkstatt mit Abstellkapazitäten, gleichsam als Erweiterung von Plochingen an einer anderen Stelle im Netz. Sollte eine andere Betreiberin gefunden werden, braucht es aber in der Tat einen Ersatz für Plochingen. Hier müssen alle Flächenmöglichkeiten schnell auf den Tisch und wir als Gremium müssen uns dann auch zeitnah überlagen, wie wir hier vorgehen wollen.
Sie sehen also, es gibt in der Tat viele Möglichkeiten, wie wir in der Region Stuttgart auf die globalen Fragen und Herausforderungen reagieren und Antworten geben können. Wir Grünen freuen uns jetzt auf die anstehenden Beratungen in den Gremien und auf die hoffentlich große Einmütigkeit am Ende, was den Beschluss des Haushalts angeht.
Vielen Dank!